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Außer im logopädischen Klinikalltag (und auch dabei nur vereinzelt) haben Logopäd:innen leider immer noch wenig mit Personen mit schwersten (Mehrfach-) Behinderungen zu tun (u. a. dieses Klientel profitiert zumeist sehr stark von Methoden der Unterstützten Kommunikation (UK)). In einer „klassischen“ Logopädiepraxis werden i. d. R. Kinder und Erwachsene mit angeborenen oder erworbenen Sprach- und Sprechstörungen therapiert, die außer der Sprach- oder Sprechstörung meist nicht mit komplexen Behinderungen leben. Mit Kindern und Erwachsenen, die zusätzliche Behinderungen (oder z. T.  Syndrome) haben, sind Logopäd:innen dort häufig überfordert, da sie auf dieses Klientel in der Ausbildung nicht speziell "vorbereitet" werden.

Aufgrund dessen werden diese Patient:innen entweder weitergeschickt oder ausschließlich mit klassischen logopädischen Methoden therapiert. Das Ziel der klassischen logopädischen Sprach- bzw. Sprechtherapie ist jedoch in erster Linie eine Verbesserung der Lautsprache. Oftmals dauert es – wenn überhaupt – einige Jahre bis Fortschritte erzielt werden können. In dieser Zeit haben Klient:innen mit schweren Sprach- bzw. Sprechstörungen keine Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Neben den individuellen Auswirkungen für die jeweilige Person, die keine geeigneten Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt bekommt, werden auch Krankenkassen durch jahrelange "Fehltherapie" unnötig belastet.

Die Patient:innen bzw. auch deren Angehörige, die weitergeschickt wurden oder die, die aufgrund der ausbleibenden Fortschritte unzufrieden sind und andere Behandlungsmöglichkeiten suchen, sind am Ende oft in spezialisierten Therapieeinrichtungen zu finden, in denen ebenso spezialisierte Fachkräfte arbeiten. Der Nachteil für die Patient:innen ist, dass es in speziellen Therapieeinrichtungen oftmals zu langen Wartezeiten kommen kann, z. T. weite Wege zurückzulegen sind, um die Einrichtung zu erreichen, und wertvolle Zeit verloren geht, bis sie an ein solches Zentrum geraten, in dem sie ihren Bedürfnissen entsprechend therapiert werden. Diese Art der Verzögerung ist bei Kindern natürlich umso tragischer, da sich bei Ihnen biologische Zeitfenster für den Sprach- und Kommunikationserwerb bereits geschlossen haben könnten.

UK geht über die klassischen Möglichkeiten der logopädischen Therapie hinaus: Sie kann die Lautsprache ergänzen bzw. ersetzen, je nach Störungsbild, individuell zugeschnitten auf die Klient:innen, bei denen die Entwicklung der lautsprachlichen Fähigkeiten zur Kommunikation auf absehbare Zeit nicht ausreichend sein wird; es geht dabei immer darum, sich ausdrücken zu können. Viele Logopäd:innen scheuen jedoch häufig den Einsatz von UK, v. a. in der Frühintervention, da sie befürchten, dass eine alternative Kommunikation die Entwicklung der Lautsprache hemmen könnte. Dieses Argument konnte durch Studien jedoch widerlegt werden (für eine Übersicht siehe Nonn, 2011, S. 8 f.). Das Gegenteil ist hingegen der Fall: "Alle Studien zur Sprach- und Kommunikationsentwicklung durch UK zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen der Einführung eines Kommunikationssystems und der Entwicklung sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen" (Nonn, 2011, S. 9).

UK soll also nicht die logopädische Therapie ersetzen oder gar die mögliche Entwicklung der lautsprachlichen Fähigkeiten der Person behindern, ganz im Gegenteil: sie wird eingesetzt um an der Kommunikation aktiv "zu arbeiten" und um Menschen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Ein kleines Beispiel soll das Vorgehen erläutern: Neben der klassischen logopädischen Therapie einer kindlichen Sprechapraxie, z. B. nach der Koartikulations-Methode (KoArt von U. Becker-Redding), könnte ein Kind (je nach Ressourcen und Bedarf) parallel mit einer Kommunikationshilfe versorgt werden, um dem großen Bedürfnis nach Kommunikation, das die meisten Kinder mit Sprechapraxie haben, gerecht zu werden. Um Missverständnisse im Alltag und ggf. damit einhergehender Frustration (und evtl. Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität) zu minimieren und eine Teilhabe am kommunikativen Alltag zu gewährleisten.
Das Kind verfügt so lange über die Kommunikationshilfe, bis, im Idealfall, die Lautsprache jene ablöst. Da es sich bei den Geräten im Regelfall um Leihstellungen der gesetzlichen Krankenkassen handelt, bekommt die Krankenkasse das Gerät zurück und es wird bei der nächsten Person, die eine solche Kommunikationshilfe benötigt, medizinisch aufbereitet wieder eingesetzt (also dem Versorgungskreislauf zurückgeführt).

Die Relevanz und Notwendigkeit von UK lässt sich also sehr gut mit den Bereichen Partizipation und Aktivitäten des ressourcen-orientierten Modells der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) rechtfertigen. Dabei werden die individuellen Bedürfnisse der Klient:innen berücksichtigt.

Die Furcht davor, dass eine Person nach gewisser Zeit nur noch aus "Faulheit" mit einem Hilfsmittel kommuniziert (ja, auch dies höre ich öfter), und nicht mehr die Notwendigkeit sieht, sich lautsprachlich mitteilen zu müssen, kann ebenfalls genommen werden. Die lautsprachliche Kommunikation ist in der Gesellschaft die akzeptierte, normentsprechende Kommunikatsionsform. Sobald eine Person in der Lage ist Wörter auszusprechen, werden diese auch lautsprachlich realisiert und nicht mehr mit Hilfe einer anderen Kommunikationsform (siehe auch Nonn, 2011). Aus der Praxis ist dieses Phänomen z. B. auch bei der körpereigenen Kommunikationsform Gebärden zu berichten. Ein Kind, das zu der Farbe "gelb" immer die passende Gebärde zeigt, wird "gelb" sprechen, sobald es dazu lautsprachlich in der Lage ist. Es findet sicherlich ein Übergangsprozess statt, in dem sowohl die Gebärde gezeigt wird, als auch das Wort gesprochen wird. Letztendlich wird sich die Gebärde aber sehr wahrscheinlich ausschleichen.

Ferner wird häufig argumentiert, dass eine elektronische Kommunikationshilfe nicht in Frage käme, da die betreffende Person kognitiv gar nicht in der Lage sei eine solche Hilfe bedienen zu können. Boenisch (2009) entkräftet dieses Argument aber in sofern, als dass er herausstellt, dass "[...] die Nutzung elektronischer Kommunikationshilfen nicht primär eine Frage der Intelligenz ist, sondern der Einübung und motorischen Automatisierung" (S. 131).

Würde UK allen Auszubildenden der Logopädie als festes Unterrichtsfach angeboten werden, könnten verschiedene Mythen über UK widerlegt und Ängste genommen werden. Außerdem würde zwangsläufig die Auseinandersetzung mit schwer(st)en körperlichen und geistigen Behinderungen für die angehenden Logopäd:innen erfolgen. Oftmals scheinen Logopäd:innen angesichts der Schwere der Einschränkungen überfordert und unsicher zu sein, wie sie mit der jeweiligen Person umgehen können. Haben die Logopäd:innen jedoch fachlich legitimierte Werkzeuge in der Hand, die ihnen den ersten Zugang zu der zu behandelnden Person ermöglichen, könnten diese Unsicherheiten überwunden werden.

Ein wünschenswerter Effekt wäre ein verändertes Menschenbild, das von einem respektvollen Umgang auch mit Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen geprägt ist. Wenn der leider allzu häufig unterbewusst manifestierte Satz „Die Person versteht mich eh nicht“ einer offenen, vorurteilsfreien Herangehensweise weichen würde, wäre bereits der erste Schritt der UK gegangen.

Zudem ist es wichtig hervorzuheben, dass eine UK-Intervention nicht im "Alleingang" durchgeführt werden kann/sollte/darf. Es müssen mit dem UK-Team, bestehend z. B. aus Nutzenden, Therapeut:innen, Pädagog:innen, Pflegekräften, Angehörigen und ggf. den behandelnden Ärzt:innen, evtl. in Form eines runden Tisches, Kommunikationsziele herausgearbeitet und vereinbart werden. Alle Beteiligten müssen an einem Strang ziehen, damit die Ziele in den verschiedenen Lebenssituationen umgesetzt werden können. Es ist ebenfalls ratsam mit den Klient:innen Beratungsstellen für UK aufzusuchen, die sowohl eine Diagnostik durchführen als auch Therapieempfehlungen geben können. Zudem können Beratungsstellen bei der Beantragung von Hilfsmitteln helfen.


Sonderpädagog:innen haben über Jahre eine tolle Arbeit im Bereich der UK geleistet!

Wird eine Person in einer Logopädiepraxis vorstellig, sollte in Zukunft gewährleistet sein, dass die Logopäd:innen dort ebenfalls UK immer als mögliche Option im Hinterkopf haben und dementsprechend weitere Schritte unternommen werden können.

 

Boenisch, J. (2009). Kinder ohne Lautsprache: Grundlagen, Entwicklungen und Forschungseregbnisse zur Unterstützten Kommunikation. Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag.

Nonn, K. (2011). Unterstützte Kommunikation in der Logopädie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG.